Vom ICH zum ES

Zen in der Kunst des Bogenschiessens

In höchster Absichtslosigkeit, Ichlosigkeit, trifft der Schütze die Scheibe, ohne gezielt zu haben. Der Meister nennt zur Erklärung das Naturphänomen, dass die Spinne ihr Netz spinnt, ohne an dabei an die Fliege zu denken und die Fliege tanzt im Sonnenstrahl, ohne dass sie daran denkt, sich im Netz zu verfangen.

Fotograf: sanjeri - iStock - lizenziertEin Bogen, der gespannt wird, findet seinen Gegensatz in der Entspannung der Sehne. Ein Pfeil, der eingelegt wird, hat seinen Gegensatz im Ziel der Zielscheibe. Ohne Ziel macht dieser Pfeil keinen Sinn. Wenn ein Meister den Bogen spannt und den Pfeil einlegt, wird er Teil des Ganzen, dass im Treffen des Ziels seine Erfüllung findet.

ES ist Ausdruck dieser Erfüllung. Wenn ES schiesst und trifft, erfüllt sich die Einheit allen Seins. Wenn ICH schiesse und versuche zu treffen, bleibe ich im Gegensatz. Selbst wenn ich treffe, bleibe ich im ICH und damit im Gegensatz zu anderen. Solange ich im ICH bleibe, also ich etwas tue, denke, beabsichtige, trenne ich die Einheit. Wenn das ICH verschwindet, findet sie wieder zusammen, d.h. der Pfeil trifft die Scheibe, weil die Einheit sich verwirklicht. Denn in der Einheit gehören die Gegensätze zusammen. Nur das ICH bricht sie auf und schafft damit die Welt gegensätzlicher Erfahrungen. Sobald das Ich damit aufhört, hört auch diese Art der Erfahrung auf.

Es kommt also im Leben auf das Mass an Ichlosigkeit an, wenn die Gegensätze wieder zusammen kommen sollen. Wer sich arm fühlt und reich sein möchte, schafft einen Gegensatz, der sich nur dann auflöst, wenn man aufhört, das Ziel zu benennen. Dann erfüllt sich der Gegensatz, der in der Welt ist, wo es Arme und Reiche gibt. Wenn also der Arme reich werden möchte, muss er den Gedanken daran, das Bedürfnis danach, total aufgeben. Erst, wenn ihm das gelungen ist, wird der Gegensatz aufgelöst.

Wie lebt nun jemand, der vom ICH zum ES werden will? Da wird das Problem offenkundig. Wer das will, hat schon verloren. Ein ES stellt sich von selber ein. Unmerklich, unbeabsichtigt fliegt der Pfeil ins Ziel. Trotzdem, was kann das ICH tun, um die Möglichkeit einer inneren Verwandlung, die ihren Ausdruck im Äusseren findet, zu fördern. Bleiben wir bei dem genannten Beispiel. Einen Wunsch total aufzugeben, also wie in diesem Fall, reich sein zu wollen, ist vor allem, wenn die Armut drückt, sehr schwer. Trotzdem, es muss das echte Gefühl entstehen, dass Reichsein genauso schön oder erstrebenswert ist wie Armsein. Nur dann, wenn wir diesbezüglich ein Gleichgewicht herstellen, wenn beide Alternativen wirklich keinen Unterschied für uns machen, dann kann sich die Idee, der wirklich ganz heimliche Wunsch, verwirklichen oder auch nicht.

Ich glaube schon, dass wir unsere Wirklichkeit dadurch bestimmen, wir wir uns etwas wünschen oder fürchten. Doch das tun wir in der Regel aus dem Unterbewusstsein heraus. Dort pendeln wir zwischen den Gegensätzen und spinnen unser Sein in den Raum. In dem Moment, wo wir uns dessen bewusst werden, also akzeptieren, dass die in Erscheinung tretende Welt ein Konstrukt unserer Spielerei mit den Gegensätzen ist, was wir normalerweise als Schicksal empfinden, haben wir die Möglichkeit, auf diese Erscheinungsformen in der gebotenen,beschriebenen Weise Einfluss zu nehmen.

Wenn das ICH zum ES wird, ändert sich die Persönlichkeit.

Am Beispiel des Übenden, der sich bemüht, die Sehne loszulassen, ohne dass ein Ruck den Pfeil verwackelt, verdeutlicht der Meister die Schwierigkeit. "Die rechte Kunst ist zwecklos, absichtslos! Je hartnäckiger Sie dabei bleiben, das Abschiessen des Pfeiles erlernen zu wollen, damit Sie das Ziel sicher treffen, umso weniger wird das eine gelingen,umso ferner das andere rücken. Erst, wenn Sie von sich loskommen, entschieden sich selbst und all das Ihre hinter sich lassen, wenn nichts mehr von Ihnen übrigbleibt als das absichtslose Gespanntsein, kann ES passieren." ( aus Herrigel, Zen in der Kunst des Bogenschiessens)

Also mit Absicht absichtslos werden, so könnte man es auch formulieren. Ein schwieriges Unterfangen. Aber nicht aussichtslos. Wer hat nicht schon einmal erlebt, dass ein fast unmöglicher Wunsch sich so leise erfüllt, ohne ein bestimmtes Zutun, als ob eine Tür kaum hörbar butterzart ins Schloss fällt. Man muss das rechte Warten erlernen. Tun, ohne zu tun, heisst Abwarten und Teetrinken. Oder schau'n wir mal.

Aber hinter dem rechten Warten steckt noch mehr. Von sich loskommen, sagt der Meister oben. Nichts mehr wollen, nichts mehr wissen, nichts mehr haben oder sein, sagt Meister Eckehard, der christliche Mystiker. Wo auch immer wir dran kleben, an Vorstellungen, Wünschen oder Ängsten, an allem, was unser Ich festhält und ausmacht, das dürfen wir getrost loslassen. Wenn ES schiesst und trifft, verwirklicht sich die "Unio Mystico", die Einheit mit Gott. Das kann ziemlich lange dauern. Und es muss nicht nur das Bogenschiessen sein. Im Grunde sind wir überall gefordert, das ICH mit seiner gegensätzlichen Einstellung zum WIR quasi an der Garderobe abzugeben. Die Zukunft wird zur Gegenwart, die Hoffnung vermählt sich mit der Enttäuschung, der Feind entpuppt sich als Freund. Alles, was wir wahrnehmen, ist eine Erfindung des Ich's.

Selbst die Naturwissenschaft ist dieser Meinung. Der menschliche Beobachter, so die Quantenphysik, erschafft mit seiner Erfahrung, mit seinem Wünschen und Wollen, seine Wirklichkeit. Unser tägliches Erleben ist also keineswegs objektiv determiniert. Mit unseren Vorstellungen verwirklichen wir unseren Alltag. Je mehr wir deshalb das Ichhafte, das Ego, betonen bzw. ihm meist unterbewusst den Raum geben, sich zu entfalten, desto mehr werden wir mit seinem Gegenteil konfrontiert. Wie beim Bogenschiessen schaukeln sich die Gegensätze zwischen Willen und Können hoch, bis der Frust oder der Schmerz die Aufgabe erzwingt.

Wer ZEN praktiziert, gibt sich selbst auf und gewinnt in dieser Hingabe alles.