Früher wurde man Bäcker, heute Bachelor

Zur Zukunft von Gesellschaft und Bildung

Heute werden in Deutschland nur noch halb so viele Kinder  geboren wie in den sechziger Jahren  und innerhalb der letzten 130 Jahre hat sich die Lebensdauer verdoppelt - zwei Fakten, deren Konsequenzen für unsere Gesellschaft von größter Bedeutung sind. Wir werden weniger und vor allem älter im Schnitt. Und wenn man gleichzeitig feststellen kann, dass heute zum Beispiel in der Landwirtschaft nicht mehr wie nach dem 2.Weltkrieg 25 Prozent der Bevölkerung arbeitet sondern nur noch knapp 2 Prozent, ähnliches gilt für die Industrie, dann weiß man auch, dass wir vor einem grundlegenden Wandel der Beziehung der Menschen untereinander stehen, dass Bildung, Arbeit, Einkommen, Ehe und Familie einer Zäsur unterworfen werden, wie sie mit dieser Geschwindigkeit und dieser umfassenden Bedeutung vermutlich noch nie in der Geschichte stattgefunden hat.

Zukunftsforscher wie Mathias  Horx sprechen von sogenannten Megatrends, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich langfristig, nachhaltig und global auswirken. Neben der kontinuierlichen Verringerung der Geburtenrate oder der stetig steigenden Lebensdauer gibt es den Trend zur Mobilität, zur Individualisierung oder zur Mediatisierung.

Alexander Kondratieff hat verschiedene technische Erfindungen der jüngeren historischen Vergangenheit u.a. die Dampfmaschine, das Auto und den Computer für bislang fünf Entwicklungswellen insbesondere in der Wirtschaft verantwortlich gemacht. Der bevorstehende sechste Kondratieff basiert auf Erfolgen in der Medizin und einem veränderten Gesundheitsverständnis. 

Ganzheitliches Bewusstsein, Nachhaltigkeit,  Alternativmedizin, betriebliches Gesundheitsmanagement, Psychotherapie sind einige der Bereiche, die zukünftig noch mehr boomen werden. Besonders die Entwicklung von Wellness zur Selfness, also weg vom passiven Genuss und Abhängigkeit von Ärzten und Kassen zugunsten des "Selfmanagements", der Eigenbehandlung und der Selbstermächtigung (Empowerments)  wird als Zeichen der neuen Gesundheitswelle gesehen.
Die Menschen werden in Zukunft jedoch nicht nur gesünder und schöner, sondern auch klüger. Insbesondere bei den Frauen  lässt sich der Megatrend "Höhere Bildung" schon seit 100 Jahren beobachten. Über die Hälfte aller Studenten sind jetzt schon weiblicher Natur und die Tendenz zeigt weiter nach oben.

Allgemein, also Frauen und Männer zusammengenommen, stieg die Zahl derjenigen, die eine Hochschulzugangsberechtigung erwarben, auf über 50% eines Jahrganges an!
Studieren wird immer beliebter. Waren es noch in den 50iger und 60iger Jahren nur ca. 5%, die in den exklusiven  Klub der Hochschulstudenten aufgenommen wurden, nahm dieser Anteil allein in den letzten zwanzig Jahren um fast 20% zu. (Quelle: Statistisches  Bundesamt)

Mit der Einführung des Bachelors und des Masters als international anerkannte Hochschulabschlüsse scheint sich diese Entwicklung noch weiter zu verstärken. Zumindest könnte im Vergleich mit anderen Ländern noch ein Nachholbedarf bestehen. In Australien oder in Schweden studieren weit über 70% eines Jahrgangs an den dortigen Hochschulen. Allerdings fehlt dort auch die duale betriebliche Ausbildung, auf die die bundesdeutsche Wirtschaft und ihre Kammern zu Recht sehr stolz sind.

Über 500.000 junge Menschen fangen jährlich eine Lehre an, die sie zum Kaufmann, Friseur oder Bäcker befähigt und mit der sie nach ihrem Berufsabschluss eine Stelle in einem Unternehmen erhalten können. Dieser betriebliche Bildungsweg, später noch weitergehend zum Fachwirt oder Meister führend, gilt bis heute als der Königsweg insbesondere für Absolventen von Real- und Hauptschulen. 

Doch die Rahmenbedingungen verändern sich. Bislang gab es einen Überschuss an Interessenten für eine betriebliche Ausbildung. Im Rahmen der demographischen Entwicklung nimmt die Zahl der Bewerber schon fast automatisch ab, während die Wirtschaft je nach Branche eher mehr als weniger Auszubildende braucht, und zwar nicht (nur), um sie als preiswerte Arbeitskräfte zu nutzen, sondern um die Basis für die stetig wachsende Nachfrage nach Fachkräften in Zukunft befriedigen zu können.

Die Zahl der Interessenten nimmt aber auch, zumindest ist das für die Zukunft anzunehmen, aus einem anderen Grunde ab, der in der veränderten Einstellung der Zielgruppe zu finden ist. 2012 stieg in NRW die Zahl derjenigen, die nicht in ein Ausbildungsverhältnis wechselten, sondern nach dem Abschluss auf der Realschule weiter zur Schule (Gymnasium, Berufskolleg) gingen, gegenüber 2001 von 22,3%  auf 34,5%.  Die Entscheidung darüber, welchen Beruf der Einzelne in Zukunft ausüben möchte, hat diese Gruppe verschoben. Und nicht nur das. Erklärtes Ziel ist nunmehr zunächst die Hochschulreife. Und danach könnte eine Berufsausbildung folgen, was allerdings wenig Sinn macht, wenn nicht anschließend studiert und ein akademischer Berufsabschluss angestrebt wird. Nur ca. 10 Prozent aller Personen mit Hochschulreife gehen in ein Ausbildungsverhältnis. Alle anderen studieren und sind für die übliche berufliche Bildung mit IHK-Abschluss verloren. 

Warum ist das so?  Offenbar deshalb, weil der akademische Abschluss massive Vorteile für das Berufsleben verspricht. Akademiker sind seltener arbeitslos, verdienen wesentlich mehr Geld und genießen einen weitaus höheren gesellschaftlichen Status. Und wenn immer mehr Mitschüler lieber weiter auf die Schule gehen und fürs Abitur pauken, entsteht ein Herdentrieb nach dem Motto "Rette sich, wer kann". Wer will noch Bäcker werden, wenn der Bachelor winkt?

Allerdings muss man sich die Frage stellen, ob diese Rechnung auf Dauer aufgehen kann. Bislang war eher zu hören, dass sich die Wirtschaft über die Qualität der Auszubildenden, insbesondere über ihre schulischen Leistungen, beschwerte. Dieser Chor ist scheinbar verstummt. Lieber einen weniger qualifizierten Auszubildenden als gar keinen, ist möglicherweise jetzt die Devise.
Doch sollen die jungen Menschen plötzlich erheblich klüger geworden sein, damit sie die akademischen Hürden überspringen können? Ein Hochschulabschluss gilt bislang noch als Nachweis besonderer intellektueller Fähigkeiten.
    

Zudem stellt sich die Frage, inwiefern die Wirtschaft so viele Akademiker überhaupt verkraften kann, wo doch eher ein Mangel an Facharbeitern besteht. 


Aus der Abbildung   (Eva Kuda et al. Hrsg,: Akademisierung der Arbeitswelt) lässt sich auf jeden Fall erkennen, dass es bereits jetzt einen Überschuss an Personen mit dem sogenannten tertiären Abschluss gibt, zumindest wenn man der Bedarfsschätzung Glauben schenkt. Immerhin hat Deutschland noch ein recht vernünftiges Verhältnis dieser beiden Variablen aufzuweisen. In vielen anderen Ländern geht die Rechnung zwischen Angebot und Nachfrage scheinbar überhaupt nicht auf. 

Aber das mag auch täuschen. So wie zum Beispiel Physiotherapeuten heute bereits an 30 Hochschulen ihren Bachelor machen können, Krankenschwestern am besten mit Abitur ihre Ausbildung beginnen und generell Arbeitgeber lieber einen Abiturienten in ein Ausbildungsverhältnis übernehmen als einen Haupt- oder Realschüler, jedenfalls bislang, steigen die intellektuellen Anforderungen in den Berufen generell. Moderne Techniken, Computerprogramme, intelligente Maschinen, ständige, in immer kürzeren Intervallen auftretende Neuerungen, erfordern zudem neben Fachkenntnissen eine hohe Anpassungsfähigkeit und Stressresistenz.

Die Herausforderungen am Arbeitsplatz werden immer grösser, die Krankheitsstände auch. 
Dabei wird auch die Lebensarbeitszeit immer weiter verlängert. Jetzt ist die Rente ab 67 beschlossen, bald folgt möglicherweise die Verschiebung auf das siebzigste Lebensjahr. Keine Frage, der Nachweis eines Hochschulabschlusses ist eine durchaus positiv zu bewertende Voraussetzung für ein erfolgreiches Berufsleben. Eine berufliche Ausbildung, zumindest der Erwerb von beruflichen Kenntnissen, wäre zusätzlich häufig von Vorteil sowohl für den Arbeitnehmer wie auch für die Wirtschaft, die dem Akademiker oft zunächst erklären muss, wie ein Betrieb funktioniert oder welche praktischen Anforderungen das Berufsbild mit sich bringt.

Eine Lösung für dieses Dilemma, dass zwar praktische Kenntnisse wünschenswert bis sogar erforderlich sind und trotzdem lieber studiert wird, könnte in dem Aufkommen der dualen Studiengänge liegen. Diese relativ neue Form des Studierens beruht auf einer Kombination zwischen Studium und Berufserfahrung. Der Student oder die Studentin verbringen je einen Teil der Zeit in der Hochschule (Blockunterricht oder auch Fernstudium) und im Betrieb. Je nachdem,  wo der Schwerpunkt liegt, dauert ein solches Studium natürlich länger, kann aber auch mit einer  ordentlichen Berufsausbildung verbunden werden, so dass am Ende die Teilnehmer beides in der Tasche haben: Akademischer Abschluss und Berufsabschluss, zumindest wertvolle berufliche Erfahrungen und Kontakte. Ein Angebot, wovon Arbeitnehmer und Arbeitgeber profitieren. Häufig kommt auch der Arbeitgeber für die Kosten des Studiums auf und zahlt ein Gehalt. 

2007 gab es rund 660 duale Studiengänge, 2012 bereits 1400 Angebote mit 64000 Studenten und über 45.000 Unternehmen, die dabei kooperierten. Offenbar ein Trend, der sich auch zum Megatrend entwickeln könnte. Immerhin eine interessante Alternative zu herkömmlichen Modellen.

Die Gesellschaft verändert sich. Immer mehr ältere, immer weniger junge Mitbürger bestimmen das Gesellschaftsbild. Die Technik greift mit einer fast exponentiellen Entwicklungskurve in unseren Berufs- und Lebensalltag ein. Bildung bleibt daher die Wachstumsressource einer Bevölkerung. Deshalb müssen sich auch ihre Methoden und ihre Inhalte wandeln. Zum Wohle von uns allen.